Die Bedeutung der Enzyklika „Dilexit nos“

José Granados

Am Ende der Synode über die Synodalität hat Papst Franziskus nicht nur das Schlussdokument der Synode unterzeichnet, sondern auch eine Enzyklika über das Heiligste Herz Jesu veröffentlicht: Dilexit nos.

Welche Bedeutung kommt diesem Dokument zu? Angesichts der vielen Probleme, mit denen die Kirche konfrontiert ist, könnte man es mit Skepsis betrachten, aber dann würde man eine Botschaft übersehen, die wir heute hören müssen.

Wir sind Zeugen einer Glaubenskrise, die das Evangelium im weltweit vorherrschenden Denken zu verwässern droht. So wird beispielsweise diskutiert, ob das christliche Menschenbild angesichts neuer Lebensformen überholt sei, ob die christliche Morallehre für den durchschnittlichen Menschen zu schwer zu akzeptieren sei oder ob in einer pluralistischen Gesellschaft der Glaube an Christus noch als einziger Weg zur vollen Gemeinschaft mit Gott dargestellt werden dürfe.

Kann in diesem Zusammenhang das Beharren auf der zentralen Bedeutung der Liebe Jesu nicht dazu dienen, theologische Vorstellungen und pastorale Praktiken zu rechtfertigen, die in Wirklichkeit wesentliche Aspekte der Verkündigung und Sendung Jesu verraten? Möglicherweise.

Die Antwort hängt davon ab, wie man die Enzyklika liest und welche Fragen man an sie stellt. Denn die entscheidenden Fragen lauten: Welchen Christus predigt die Kirche und welches Heil bietet er den Menschen an?

Betrachten wir einige der wichtigsten Erkenntnisse von Dilexit nos, die für die Krise der Kirche relevant sind.

 

1. Der Mensch im Licht der Liebe Christi

Die Betrachtung des Heiligsten Herzens Jesu legt ein grundlegendes Prinzip des christlichen Menschenbildes in unserer posthumanistischen Zeit fest: Die Liebe Christi macht dem Menschen den Menschen selbst voll kund (vgl. Gaudium et spes, Nr. 22). In einer Zeit, in der viele meinen, die Kirche habe ein veraltetes Menschenbild, sollte Dilexit nos als Einladung verstanden werden, durch Christus nicht nur zu verstehen, wer wir sind, sondern auch, wer wir zu sein berufen sind.

Nach Dilexit nos wird der Mensch durch sein Herz definiert. Was bedeutet es, das Herz zum Zentrum unserer Identität zu machen? Die Enzyklika antwortet (vgl. DN Nr. 12) mit einem Verweis auf Romano Guardini: Das Herz ist der Ort, an dem der Mensch durch die ursprüngliche Liebe definiert wird, die er vom Schöpfer empfängt und auf die er antwortet. Wir erinnern uns an die Worte von Johannes Paul II. in Redemptor hominis: Nur die Liebe offenbart, wer der Mensch ist (vgl. RH Nr. 10). Benedikt XVI. fügt in Deus caritas est hinzu: Unsere Definition der Liebe muss mit dem Blick auf den Gekreuzigten beginnen (vgl. DCE Nr. 12). Und welche Sicht der Liebe wird uns dadurch vermittelt?

 

2. Die Wahrheit der Liebe

Der italienische Philosoph Gianni Vattimo, der eine postmoderne Philosophie des „schwachen Denkens“ vertrat, wurde am Ende seines Lebens wieder Christ. Seiner Meinung nach sollte das Evangelium jedoch als reine Liebe verstanden werden, ohne Bezug auf dogmatische Inhalte oder Wahrheit. Dogmen seien ein Hindernis für unser Glaubensleben. Unser Glaube sei dazu berufen, ein „schwacher Glaube“ zu werden. Viele Christen scheinen ihm heute zuzustimmen.

Diese Trennung zwischen Wahrheit und Liebe wird jedoch überwunden, sobald man auf das Herz Jesu schaut. Denn dort offenbart sich die wahre Liebe, und diese Liebe entspricht der trinitarischen Struktur des Glaubens, die den Kern des Dogmas bildet. Dilexit nos betont, dass im Herzen Jesu der Vater und der Geist am Werk sind, und so erschließt sich dem Glaubenden das Geheimnis der Dreifaltigkeit (vgl. DN Nr. 70ff). Die Liebe hat also eine Wahrheit, eine Struktur und eine Ordnung, die es ihr ermöglichen, zu gedeihen und sich zu entfalten. Das Zentrum dieser Ordnung ist der Vater, die Quelle der Liebe, auf den Christus immer schaut und dessen Liebe Christus empfängt, um sie uns zu schenken (vgl. DN Nr. 70-74).

Der Vorrang der Liebe Gottes macht die Liebe zum Nächsten verständlich. Wo dieser Vorrang der Liebe Gottes geleugnet wird, weiß man nicht mehr, wie man den Nächsten lieben soll. Das Herz Jesu zeigt uns, dass die wahre Liebe sich nicht darauf beschränkt, für die materiellen Bedürfnisse des Nächsten zu sorgen, seine Ideen zu respektieren oder seine Fehler zu tolerieren. Die Liebe Christi zu den Menschen geht über all das hinaus: „Er will uns zum Vater führen“ (DN Nr. 70).

Unsere Brüder und Schwestern in Wahrheit lieben bedeutet daher, sie aus der Quelle der Liebe Gottes zu lieben und sie so zu lieben, dass sie Gott, den Schöpfer der Welt, lieben können, der uns die Gebote der Liebe und des Lebens gegeben hat. In diesem Sinne ist auch die Feindesliebe zu verstehen: die Feinde so zu lieben, dass sie Freunde Gottes werden. Aber diese Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern ist nicht nur geistig, sie berührt auch unser Fleisch.

 

3. Das Herz Jesu und die Bedeutung des Leibes

Das Herz Christi zu betrachten bedeutet nicht nur, die Wahrheit der Liebe zu verstehen, sondern auch einer Liebe zu begegnen, die Fleisch angenommen hat und daher unsere leiblichen Empfindungen kennt: Trauer, Freude, Hoffnung, Angst, Mut, Zorn … Dilexit nos erinnert an das, was Papst Pius XII. in Haurietis aquas die dreifache Liebe des Herzens Christi genannt hat. Erstens die göttliche Liebe des Gottessohnes; zweitens seine geistige menschliche Liebe; drittens seine affektive und daher leibliche Liebe (vgl. DN Nr. 64-69).

Obwohl es die Verehrung des Herzens Christi bekanntlich schon seit den Anfängen des Christentums gibt, hat sie als Antwort auf die Herausforderung des Jansenismus, der die Bedeutung der leiblichen Affekte vergessen hatte, einen neuen Impuls erhalten. In unserer Zeit besteht das Problem nicht mehr im Vergessen der leiblichen Affekte, sondern in ihrer Verabsolutierung. Wir entdecken in unserem Leib und in der Art, wie er auf die Welt reagiert, keine Sprache mehr, die wir vom Schöpfer erhalten haben. Vielmehr betrachten wir unseren Leib als Rohmaterial, das nach unseren subjektiven Gefühlen geformt werden kann.

Dass Christus uns von Herzen liebt, bedeutet, dass er die Sprache unseres Leibes annimmt, um die Fülle seiner Liebe auszudrücken. Wie Joseph Ratzinger in seinem Buch Schauen auf den Durchbohrten schreibt, liegt das Zentrum der Verehrung des Herzens Jesu in der Menschwerdung. Auf das Herz Jesu schauen bedeutet, den Leib als Öffnung der Person für Gott zu betrachten, der den Leib geformt hat und an den sich die in unseren Leib eingeschriebenen Verlangen richten.

Mit dem Herzen lieben bedeutet also, eine Sprache des Leibes anzunehmen, die vom Schöpfer kommt, der Mann und Frau von Anfang an geformt und sie ihrer gegenseitigen Liebe anvertraut hat. Nach Paulus, dem ersten Theologen des Herzens Christi, waren die Herzen der Heiden verfinstert (vgl. Röm 1,21), weil sie die ursprüngliche Sprache der Liebe nicht respektierten, die vom Schöpfer kommt, der sie von Anfang an als „Mann und Frau“ (Gen 2,24) geschaffen hat. Dilexit nos ist als Einladung zu verstehen, diese ursprüngliche Sprache des Leibes wiederzuentdecken und zu vertiefen, und so erinnert das Dokument an die Worte Jesu an seinen Vater: „Einen Leib hast du mir bereitet“ (Hebr 10,5).

 

4. Wiedergutmachung: Wo Barmherzigkeit und Gerechtigkeit einander begegnen

Die Betrachtung des Herzens Jesu erlaubt uns auch, unsere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu richten. Ein Großteil der theologischen und pastoralen Diskussion der letzten Jahre hat die Barmherzigkeit als Toleranz gegenüber dem Bösen verstanden und jeden Aufruf zur Umkehr von der Sünde als pelagianisch abgetan. Die Betrachtung des Herzens Jesu korrigiert diese falsche Sicht.

Tatsächlich erinnert uns das Herz Jesu an die Schwere der Sünde als Vergehen gegen die Liebe Christi. Aber diese Schwere führt nicht zur Verzweiflung, denn die Tiefe der Sünde wird zusammen mit der Tiefe der überfließenden Barmherzigkeit Christi offenbart, der für uns stirbt.

Die Barmherzigkeit Gottes, die sich im Tod Jesu offenbart, besteht nun nicht nur darin, dass er uns unsere Sünden vergibt, sondern sie geht weit darüber hinaus. Denn Christus hat den Vater mit einem menschlichen Herzen geliebt und uns die menschliche Antwort auf die Liebe Gottes offenbart. Durch seinen Tod am Kreuz hat Christus das menschliche Herz erneuert, damit wir uns von der Sünde erheben und so leben können, „wie es Gottes würdig ist” (1 Thess 2,12). Die größte Barmherzigkeit ist nicht die, die uns klein und bedürftig sein lässt, sondern die, die uns aufrichtet, damit wir auf die Liebe Christi so antworten können, dass wir mit Christus zu einer Quelle der Liebe werden.

All dies ist in der Lehre von der Wiedergutmachung zusammengefasst, die wir im Herzen Jesu dem Vater darbringen können (vgl. DN Nr. 181ff). Wir sind nun in der Lage, auf die Liebe Gottes mit Liebe zu antworten und mit Jesus zu einer Quelle der Liebe für andere zu werden. Das erinnert uns an die Notwendigkeit, die frohe Botschaft von der Liebe Jesu zu verbreiten.

 

5. Vom Herzen Jesu her evangelisieren

Die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu führt zur christlichen Verkündigung der Liebe Christi an alle Menschen. Wenn manche Äußerungen von Papst Franziskus in den letzten Jahren die Bedeutung der christlichen Mission für alle Menschen zu schmälern schienen, so finden wir in Dilexit nos eine dringende Einladung, das Evangelium allen Menschen zu verkünden (vgl. Nr. 207-211).

Das Herz Jesu lässt uns diese Mission nicht als das Bedürfnis verstehen, anderen unsere eigenen Überzeugungen aufzuzwingen, sondern vielmehr als ein Überfließen der Liebe Christi. Die Verkündigung des Evangeliums besteht also in der Mitteilung der wahren Liebe. Diese Kommunikation geschieht, wenn wir nicht nur wahrnehmen, wie viel Großes die Liebe Christi in unser Leben bringt, sondern auch, wie viel Großes sie in das Leben eines jeden Menschen bringt, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Wenn wir das Herz Jesu betrachten, verstehen wir, dass Christus nicht nur der Erretter aller ist, sondern auch das Heil aller. Das heißt, wir verstehen, dass gerettet zu sein bedeutet, ihm gleichförmig zu werden, so dass unsere Liebe von der Liebe Christi durchdrungen ist. Wir verstehen dann, dass die Liebe Christi einer Gemeinschaft von Menschen Gestalt gibt und eine Mission für die Gesellschaft übernimmt.

 

6. Die soziale Dimension der Liebe Christi

Die Herz-Jesu-Verehrung ist weit davon entfernt, ein intimer Kult zu sein; sie ist vielmehr eine Quelle des Lebens, die das Gemeinwohl belebt. Wie Benedikt XVI. in Caritas in veritate (vgl. CiV Nr. 2) gezeigt hat, ist die Liebe, die aus dem offenen Herzen Jesu kommt, nicht nur das Prinzip der persönlichen Beziehungen, sondern auch die Grundlage des sozialen Lebens. Die Achtung der Würde der Person, die Ordnung der menschlichen Liebe, das Fundament der Liebe in Gott, dem Schöpfer, sind nicht nur christliche Wahrheiten, sondern auch die Grundlagen einer Zivilisation der Liebe.

Dilexit nos betont zu Recht diese soziale Dimension, die das Herz Jesu eröffnet (vgl. Nr. 182-184). Das Herz Jesu inspiriert das Gemeinwohl der Kirche und der Gesellschaft durch die Eucharistie. Denn in der Eucharistie berührt das Herz Jesu die Herzen der Gläubigen, um ihren Beziehungen eine neue Gestalt zu geben – die Gestalt des Leibes Christi.

Eine fruchtbare Lektüre von Dilexit nos muss sich daher die Frage stellen, wie die Logik der Eucharistie auf die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens ausgedehnt werden kann. In unserer Zeit der Säkularisierung und der kulturellen Verwüstung gehört dazu die Bildung von Gemeinschaften, die in der Eucharistie verwurzelt sind und ein Umfeld schaffen, in dem alles Menschliche gedeihen und seine Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott finden kann. Diese Gemeinschaften werden so zum „geduldigen Sauerteig“ des Christentums, wie es Alan Kreider formuliert.

Ich habe einige Schlüsselpunkte hervorgehoben, die es uns ermöglichen, Dilexit nos in einer Weise zu lesen, die für das Leben der Kirche heute relevant ist. Durch diese Linse betrachtet, kann die Verehrung des Heiligsten Herzens Jesu die Hoffnung fördern, die die Kirche heute so dringend braucht.

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José Granados

José Granados ist Dogmatiker und Mitbegründer des Veritas Amoris Projects. Von 2010 bis 2020 lehrte er als Ordinarius für Dogmatische Theologie der Ehe und Familie am Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie in Rom, wo er auch Vizepräsident war. Zwischen 2004 und 2009 war er Professor für Theologie an der Washingtoner Sektion des Instituts Johannes Paul II. Er ist der Autor zahlreicher Publikationen, darunter „Zur Liebe berufen: Eine Einführung in die Theologie des Leibes von Johannes Paul II.“ (mit Carl Anderson), Fe-Verlag 2013 und „Der Olivenbaum des Odysseus - oder die Architektur der Familie“, Be&Be Verlag 2018.

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